Corona ist Vergrößerungsglas und manchmal Motor für längst fällige epochale Entwicklungssprünge. Eine Betrachtung darüber, was die kollektive Hoffnung auf einen „normalen“ Sommer über Chancen und Hindernisse für die Transformation zum New Normal verrät.

Damit alles immer besser bleibt

Über mein Haus dröhnen endlich wieder mehr Flugzeuge. Es geht aufwärts im eigentlichen Sinn des Wortes. Im Steigflug vom Flughafen Wien-Schwechat und auch mindestens so steil im übertragenen Sinn. Die Rückkehr zum alten Fortschrittsnarrativ ist im Corona-Pause-Sommer 2021 die Hoffnung vieler. Wieder normal, also wie gewohnt, leben dürfen.

Politikerinnen und Politiker, die meist auf hohe öffentliche Aufmerksamkeit und kurzfristigen Beifall gepolt sind, werden nicht müde, die Rückkehr zur alten Zukunft zu versprechen. Auch wenn viele Aspekte diese Fortschrittsgeschichte schon vor Corona keine Zukunft hatten. Dennoch wollen wir in die vertraute Wirklichkeit zurück.

Foto: Raphael Biscaldi, Unsplash

Den „Sommer wie damals“ versprachen schon lange vor Corona findige Werbetexter. Sie paarten unsere Vorliebe für Zucker mit unserem Hang zur Verklärung der Vergangenheit und bewarben ein damals neues(!) Süßgetränk, dessen wesentlichster Bezug zur Vergangenheit wohl der ungenierte Zuckergehalt war in Verbindung mit diesem Slogan. Vergangenheit verheißt Ordnung, Absehbarkeit und damit ein gutes Gefühl. Nicht zuletzt, weil wir uns die gute alte Zeit im Rückblick erklären und dabei aktiv (re-)konstruieren und vergolden. Unser Gehirn ist eine bemerkenswerte Wunderkammer.

Die aktuell erhoffte Erholung schließt an die scheinbar bis dahin sorgenfreie Welt des zügellosen Wachstumsnarrativs von vor Corona an: Sofern wir es besonders geschickt anstellen, könnten wir sogar das durch die Krise verpasste Wachstum wettmachen. Wenn das nicht hoffen lässt. Denn beispielsweise auch ökologische Nachhaltigkeit muss man sich erst einmal leisten können. Ohne ein Zurück zum alten Wachstumspfad könnten wir die Welt gar nicht retten. Sogar die Grünen in Deutschland stimmten da neuerdings mit Einschränkungen zu.

Dieses Antwortmuster folgt derselben Hoffnung wie jenes, dass soziale Ungleichheit eben nicht durch Systemwandel und Umverteilung, sondern einfach durch ein mehr vom Selben für alle besiegt wird. Im Kapitalismus kann eben jeder Millionär werden, nur nicht alle. Für den Sommer wie damals auch das Denken wie damals.

Welcome Back

Der von der österreichischen Bundesregierung gewährte „Comeback-Bonus“ für Selbstständige mit Anspruch auf Leistungen aus dem Härtefallfonds bekommt so eine ungewollte Doppelbedeutung: „Welcome back“ scheint auch überall das Leitmotiv in Krisen zu sein.

Aktuell reduzieren einige Unternehmen das über Nacht erlaubte Homeoffice wieder. Manche stellen es auch wieder völlig ein. Auch gehören einige Erleichterungen bei der Abwicklung von Gesundheitsdienstleistungen oder die telefonische ärztliche Beratung, die während des Lockdowns plötzlich möglich wurde, vielerorts bald wieder Vergangenheit an. „Come back“: Statt „zurück in die Zukunft“ – „willkommen in der Vergangenheit“. Immer steht dabei mangelndes Vertrauen, Angst vor Missbrauch oder vermutete Faulheit dem kurzzeitig erzielten Fortschritt im Weg. Zumindest in Österreich.

Die anfängliche Euphorie darüber, dass wir die Corona-Disruption neben all dem menschlichen Leid wenigstens für längst überfällige Neuanfänge nutzen könnten, entpuppt sich nur wenige Monate später weitgehend als Fehlanzeige. Genauso wie die Hoffnung das Virus würde in wenigen Monaten weg oder zumindest unter Kontrolle sein.

Change by disaster

Was wir in den Monaten voller Einschränkungen sehr wohl erleben konnten, war die überragende menschliche Fähigkeit, sich anzupassen und Probleme kreativ zu lösen. „Change by disaster“ können Menschen hervorragend. Wobei die erreichten Neuerungen, sobald der Druck nachlässt, häufig wieder in den alten Zustand zurück schwingen. Das bedeutet auch, dass „Change by disaster“ selten zu nachhaltigen Erneuerungen führt, solange Unternehmen die neue Praxis nicht „zementieren“, also verstetigen.

Da kann zum Beispiel der Faktor Zeit helfen. Dieser sorgt dafür, dass vermeintliche Problemlösungsprovisorien, die dann viele Jahre oder Jahrzehnte „temporäre“ Realität sind, (Denk-) Wirklichkeit und Organisationskultur prägen, so dass sie diese unmerklich für immer verändern. Die normative Kraft des Faktischen ist nicht zu unterschätzen, denn trickreich eingesetzt, kann sie ein subkutaner Strukturbrecher und Entwicklungsbooster sein.

Ebenso hilft es bereits während des Ausnahmezustandes die Gunst der Stunde zu nutzen und neue Fakten und Verhältnisse zu schaffen, die auch nach der Krise den nötigen neuen Halt erzwingen. Ein entsprechender, wahrscheinlich nicht nur österreichischer Klassiker ist die politische Umfärbung der Führungsriegen staatsnaher Unternehmen oder Ministerien durch neue Regierungen. Selbst wenn diese oft nach kurzer Zeit längst wieder in der Versenkung verschwunden sind, entfalten ihre personellen Entscheidungen noch lange Wirkung.

Auch das sprichwörtliche Verbrennen der Schiffe nach gelungener Überfahrt zählt dazu. Da erübrigt sich jede Diskussion, ob eine Rückreise nicht doch eine Alternative wäre. Wie gut, dass plötzlich überflüssige Büroflächen nur einer neuen Nutzung zugeführt und nicht gleich den Flammen übergeben werden müssten. Provisorien, strukturelle Brückenköpfe und verbrannte Schiffe? Was vielleicht ein wenig abschätzig klingt, gehört durchaus in den Werkzeugkasten von effektiven Change-Treibern und Erneuerern.

Biegsam

Die bereits beschriebene Tendenz, Chancen zur Veränderung nicht zu nutzen, zeigt sich auch am derzeit inflationär verwendeten Begriff der Resilienz. Damit meinen viele ein kreatives Reagieren, um im erstbesten Moment wieder in die ursprüngliche Haltung zurückzuschnellen. Die gesellschaftliche, organisationale oder persönliche Resilienz erinnert an das zur Charakterisierung von dynamischer Widerstandskraft häufig benutzte Bild des sich im Wind wiegenden und biegenden Grashalms.

Foto: Seth Schwiet, Unsplash

Wenn der Sturm der Krise über einen solchen Stängel hinwegfegt, bricht er nicht, sondern biegt sich lässig zur Seite, um im nächsten Moment, wenn der Druck nachlässt, wieder zur alten Größe zurückzufinden. Diese Biegsamkeit ist für das kurzfristige Überleben des Grashalms entscheidend. Nicht nur für Grashalme. Auch für jeden Menschen, jede Organisation oder ganze Gesellschaften sind die raschen elastischen Anpassungen und damit das kurzsichtige Abwettern von Krisen überlebenswichtig. Nicht erst seit Corona.

Was beim aktuell angekündigten „Sommer wie damals“, beim erhofften „Zurück zur alten Form“, jedoch deutlich sichtbar wird, ist auch die Kehrseite vorwiegend operativ bedrohungsbiegsamer, also nur kurzsichtig resilienter Organisationen. Der Bruch findet nur später, dafür dann aber meist umso heftiger statt. Die grundsätzlich wertvolle Resilienz überdeckt die überlebenswichtige Wahrnehmung der sich nur leise ankündigenden, aber dennoch tiefgreifenden Umbrüche.

Am Ende der Geschichte angekommen

Doch gedankliche Revolutionen, narrative Brüche, echte Strukturmutation oder gar utopische Gedankenspiele und jede Art fundamentaler Erneuerung sind heute extrem out oder eigentlich tabu. Das ist auch nur konsequent. Sind wir doch als Gesellschaft weitgehend überzeugt, den Stein der Weisen ge- oder besser erfunden zu haben, auch wenn da und dort noch Optimierung gut täte. Demokratie, Kapitalismus, Aufklärung, die westliche Wertegemeinschaft oder das Gefühl der Allmacht durch Technik und das Glück durch Massenkonsum. Wir wähnen uns am paradiesischen Ende der Geschichte und damit im finalen Bedeutungsnarrativ angekommen zu sein. Selbst von immer deutlicheren nachhaltigen Störungen (Achtung Wortwitz) wie beispielsweise dem Klimawandel lassen wir uns nicht wirklich erschüttern.

Heute dürfen nur noch technische Innovationen eine neue, immer „smartere“ Ära einläuten. Die beklatschen Megatreiber sind die Digitalisierung und die Reparatur der Zukunft durch Technik, ganz in der Denktradition, die wir seit dem Beginn der Industrialisierung vor bald 300 Jahren vor Augen haben.

Aber wer starke narrative Wurzeln hat, kann sich auch (nur) ausreichend biegen, ohne die Systemparameter in Frage zu stellen oder gar radikal überdenken zu müssen. Manchmal gelingt das wirklich, zumindest eine Zeit lang. Meist aber nicht, wie die vielen Ehrengräber auf dem einstigen Technologie- und Marktführerfriedhof und die lange Liste der an Selbstüberschätzung, Arroganz und Ignoranz zugrunde gegangener Zivilisationen vermuten lassen.

Was könnten die zunächst vielleicht auch erschreckenden Lehren im aktuellen Corona-Sommer sein? Für mich zunächst jene, dass wenn es eng wird, der Antwortreflex des Stabilisierens, Reparierens, Optimierens und Akzelerierens die einzige mehrheitsfähige Antwort ist.  Es wird bald wieder, wie es war, versprochen. Und wenn die nächste Krise kommt, einfach wieder biegen.

Revolutionen sind alternativlos

Doch nicht nur die nächste Krise, sondern auch die nächste Epoche kommt bestimmt. Es ist nur die Frage, wann. Dafür ist neben der Fähigkeit zur situativen Biegsamkeit auch der Mut zum strukturellen Bruch, zur Revolution des eigenen Narrativs unverzichtbar.

Foto: Hay S, Unsplash

Heutige Gesellschaften versuchen die Vorstellung von radikal anderen Erzählungen, beispielsweise für andere Formen des lebenswerten Zusammenlebens und -arbeitens oder der fundamentalen Ablöse unserer veralteten ökonomischen Leitmotive zu vermeiden.

Die Fähigkeit zum Bruch des umfassend wirksamen, aber unerkennbaren Wahrnehmungsparadigmas einer Organisation (oder Gesellschaft), aber auch die ganz persönliche Vorstellung davon, was wichtig, wertvoll und richtig ist, wird jedoch ausschlaggebend sein, um Krisen nicht nur kurzzeitig abzuwettern, sondern über die situative Resilienz hinaus „epochale Resilienz“ zu entwickeln: die Fähigkeit, Umbrüche leben zu können.

Homeoffice. Ein Ausflug nach Utopia.

Also einfach nur immer „back on track“ auf den gedanklichen Gleisen, die in der industriellen Vergangenheit gelegt wurden und auf denen die schwere schwarzen Dampfrösser unbeirrbar in die Zukunft von damals rollen?

Die Restriktionen ermöglichten durch die „normativen Kraft des Faktischen“ Vertrauen in manch neue undenkbare Lebenswirklichkeit, wie beispielsweise dem Homeoffice, zu gewinnen.

Als vor einigen Wochen viele Einschränkungen wegfielen, machten einige den Schritt und wollten ihre künftige Arbeitspraxis zum Erstaunen und oft Entsetzen ihrer meist unvorbereiteten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber revolutionieren. Nur selten wurde die durch die Corona-Lücke von einem zum andern Tag probierte Lebens- und Arbeitspraxis für einen zukunftsorientierten kollektiven Dialog über radikal neue Zukunftsideen aller Beteiligten genutzt. Insbesondere Führungskräfte hegten Zweifel an der Leistungskraft dieses ungewohnten Alltags. Nur selten formulierten sie ihre Bedenken und Ängste auch offen.

Vielmehr drehten sie das Rad der Erneuerung so schnell es ging wieder zurück. Eine verpasste Chance, um gemeinsam Visionen einer neuen für alle besseren Arbeitswelt zu entwickeln.

NachhaltigeResilienz bedeutet, sich nicht nur zur Seite zu biegen, um bald wieder zurückzuschnellen, sondern gleichzeitig nach neuen Formen Ausschau zu halten und Brüche als überlebenswichtig anzuerkennen. Die gelebte Überzeugung, dass die Reduktion auf situative Anpassung in Zeiten normativer Erneuerung keine ausreichende Antwort bietet, wäre ein Anfang.

Ein Herbst wie nie zuvor

So sehr ich mich früher auf den Sommer und noch mehr auf die damit verbundenen langen Ferien gefreut habe (was vielleicht der Grund für diese kollektive Sehnsucht nach dem Sommer-wie-damals-Gefühl ist), so sehr war auch der Herbst und der damit verbundene Beginn des neuen Schuljahres ein tolles Gefühl. Neustart! Neue Hefte noch ohne Eselsohren, neue Bücher und der Vorsatz, ab jetzt einiges besser machen. Zum Beispiel von Anfang mitlernen. Naja, lassen wir das. Aber vielleicht wäre dieser Herbst eine gute Gelegenheit für einen Anfang, um nachhaltig resilient und noch transformationskompetenter zu werden?

Foto: Patrick Tomasso, Unsplash

Denn wir haben bewiesen, wir können Krise. Sogar sehr gut. Wir sind kreativ und biegsam. In Wahrheit können wir auch radikal neu bestens. Sonst säßen wir noch gemütlich auf den Bäumen. Wir haben nur die Erlaubnis oder besser unsere Recht (!) zur Selbstermächtigung, ähnlich dem Recht auf Selbstverteidigung vergessen und damit Ordnungen und scheinbare Gewissheiten grundlegend in Frage zu stellen, wenn es notwendig scheint.

Vielleicht ist dieser Herbst eine gute Gelegenheit, den noch erinnerbaren Ausnahmezustand gedanklich erneut herzuholen und kleine Gewohnheits- oder gar Systembrüche zu riskieren oder gar provozieren. Sie wissen ja, es braucht nur ein paar utopische Erfahrungen, Zeit und Frechheit des permanenten Provisoriums, um das neue Normal unbehelligt entstehen zu lassen!

 

Erstmals veröffentlicht für die Zeitschrift Personalmanager am 27.7.2021 Der Link zum Artikel

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